Wo ist das Gute Leben?

Die bekannteste US-Soziologin und womöglich sogar weltweit bekannteste Soziologin Juliet Schor hat ein Forschungsprogramm, dass Sie seit rund 30 Jahren verfolgt: Es geht ihr um das „Betriebssystem“ von Konsumgesellschaften. In ihren Büchern The Overworked American (1991) und The Overspent American (1997) legt sie klar, dass mit diesem Betriebssystem etwas nicht stimmt. In Born to Buy (2004) erklärt sie, warum das Betriebssystem trotz seiner vielen Bugs relativ robust läuft. In Plentitude (2010) und True Wealth (2011) stellt sie Grundbausteine für ein neues Betriebssystem vor und erklärt in After the Gig (2020), dass und warum es gehacked wurde und wie es wieder zum Laufen gebracht werden könnte. Ja, Sie haben recht: Das ist nicht wenig! Und deswegen ist dieser Blogbeitrag auch etwas länger geworden.

Denn wir gehen nun ihr Forschungsprogramm durch – nicht grundlos, denn es könnte ja etwas mit Bibliotheken der Dinge zu tun haben. Also: Schor’s Ausgangspunkt ist die Verheißung von Konsumgesellschaften, das Leben der Konsumenten zu verbessern, indem ihr materieller Lebensstandard stetig erhöht wird. So soll das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl möglich werden. Das Betriebssystem lautet: Man arbeitet für Geld, kann konsumieren und mehr konsumieren, weil ständig neue, bessere und günstigere Produkte auf den Markt kommen und die meisten Menschen somit immer komfortabler leben. Und gewiss leben wir in einem materiellen Wohlstand, den sich Barone, Fürsten und Grafen nie hätten vorstellen können.

Ist das also schon das gute Leben? Nach Juliet Schor arbeiten US-Amerikaner (aber eben nicht nur sie) zu hart und zu lange. Manche versuchen so Karriere zu machen und mehr Geld zu verdienen. Andere verdienen zu wenig, haben mehrere und in der Regel sinnentleerte Jobs, folglich zu wenig Freizeit und Stress (heute heißt das Burn Out). Sozialer Fortschritt sollte eigentlich anders verlaufen. Schon die Arbeiterbewegung hatte weniger Mühsal und mehr Freizeit in Aussicht gestellt.

Wozu die Schufterei? Nach dem hergebrachten Betriebssystem arbeiten wir, um das verdiente Geld wieder auszugeben, um wieder zu arbeiten. Wer dabei gut verdient, hat meistens wenig Zeit, wer dabei weniger gut verdient (und das tun die meisten), nimmt oft zu viel Schulden auf, um zu viel zu konsumieren (nach Schor speziell in Nordamerika, heute aber auch in China).

Folge: Gestresste Menschen und Ökosysteme. Der durchschnittliche Lebensstandard stagniert, nimmt sogar ab, wenn sich die Umweltbedingungen zunehmend verschlechtern. Dieses Leben ist gewiss besser als das mittelalterliche, aber es wäre komisch, wenn es das gute Leben wäre. Warum stecken wir dennoch in diesem „Work an Spend Cycle“ fest?

Darauf antwortet Schor in ihrem dritten Buch: Sozialisation. Wir werden in eine Konsumgesellschaft hineingeboren und wachsen in ihr auf. In ihr ist Werbung allgegenwärtig, werden Identitäten durch Marken und Dingen „gemacht“, halten Modetrends das Konsumniveau hoch. Kinder erleben eine kommerzialisierte Kindheit und nehmen Kommerz als eine Selbstverständlichkeit hin, die sie auch später so wenig hinterfragen wie die Gläubigen des Mittelalters das kirchliche Weltbild. Aus der mittelalterlichen Maxime „Bete und Arbeite“ wurde die industrielle Maxime „Kaufe und Arbeite“.

In ihren nächsten beiden Büchern widmet sich Schor der Frage, was das gute Leben denn nun sei? Die Schlüssel zum guten Leben sind nach Schor Zeit, Sinn und Gemeinschaft bzw. tiefe soziale Verbindungen. Das Streben nach mehr Konsum bzw. einem höheren materiellen Lebensstandard entfernt Menschen von diesen Schlüsseln. Wenn Produktivitätswachstum und das Streben nach mehr Einkommen durch mehr Freizeit ausgetauscht würden, könnten Menschen soziale Verbindungen vertiefen, weil das Zeit braucht. Wenn sie mehr Zeit hätten und weniger konsumieren würden, hätten sie weniger Stress und würden sie weniger Umweltschäden verursachen. Beides beeinträchtigt ihre Gesundheit und Gesundheit ist ein weiterer Schlüssel zum guten Leben. Wenn bloße Jobs, deren Zweck allein das Geldverdienen ist, durch die Übernahme subjektiv sinnvoller Aufgaben ausgetauscht würde, würde sich das Wohlbefinden ebenfalls verbessern.

Aber wie kann das im Alltag verwirklicht werden? Sharing ist für Schor der Kern des neuen Betriebssystems. Denn je weniger man kaufen muss, desto weniger muss man arbeiten und Geld verdienen, desto mehr Zeit hat man, desto weniger werden Menschen und Ökosysteme gestresst.  Wer Dinge mit anderen teilt, verzichtet folglich nicht, sondern gewinnt.

Das Cover ihres vorläufig letzten Buchs zeigt jedoch eine unheilvolle Entwicklung: Die Sonne schien (in Form einer sich anbahnenden Sharing Economy), aber Wolken verdecken sie und es ward wieder düster. Was ist passiert? Nach Schor wurde die Share Economy vom alten Geist des Kommerzes gehacked. Sie rekonstruiert die Entwicklung von Sharing-Unternehmen wie Uber, Lyft, Airbnb, Task Rabbit u.a.  von ihren eher idealistischen Ursprüngen bis hin zu rein kommerziellen Unternehmen, bei denen das Umsatzwachstum oft auf Kosten der Arbeiterschaft geht, die die Dienstleistungen tatsächlich erbringen.

Die Umprogrammierung geschah, als die Plattformen Kapital von Investoren annahmen, was Wachstumsdruck erzeugte, der wiederum zu ihrer Kommerzialisierung führen musste. Anstatt eine nachhaltigere Wirtschaft durch das Teilen anzustreben, verlagerten sich die Plattformen auf das Ziel, durch erhöhte kommerzielle Aktivität zu wachsen. Der Wachstums- und Gewinndruck drückte die Einkommen und verschlechterte die Arbeitsbedingungen. Was als „Teilen“ begann, wurde zu einer räuberischen kommerziellen Aktivität.

Was Schor zur Zurückgewinnung der idealistischen Sharing Economy aber nicht nennt, sind Bibliotheken der Dinge. Sie arbeiten nicht kommerziell, erst recht nicht, wenn sie von Stadtbüchereien geführt werden. Sie ermöglichen es ihren Usern weniger verdienen zu müssen, wenn sie sehr viele Dinge in Ihrem Inventar haben. Eine ideale Bibliothek der Dinge ermöglicht vielen Menschen für wenig Geld Zugang zu vielen Dingen – und zum guten Leben, das einerseits nicht darin besteht, viele Dinge zu besitzen, sondern viele Dinge nutzen zu können, und andererseits eben in Zeit, Freundschaften, Sinn und Gesundheit. Das macht Bibliotheken der Dinge logisch betrachtet zu einem Grundstein eines neuen gesellschaftlichen Betriebssystems.

Dieses Buch (2020) hätte Juliet Schor schreiben können, hat sie aber nicht. Man kann es sich übrigens – wie es sich für die „real“ Sharing Economy gehört – kostenlos downloaden.

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